Was ist Deep Reading?

Wer sich für Deep Reading interessiert, ist am Lesen interessiert, hat aber meistens keine Zeit dafür oder findet es zu anstrengend. Deep Reading bietet zwei Dinge, die im Leben vieler Leser*innen nicht sehr oft vorkommen:

  • Langsam lesen
  • Zusammen mit anderen lesen

Die meisten Menschen versuchen, möglichst schnell und möglichst viel zu lesen. Das ist nicht nur vernünftig, sondern auch in vielen Fällen ausreichend. Was aber oft fehlt, ist die Erfahrung, sich in einen Text zu vertiefen und sich so gründlich mit ihm auseinander zu setzen, dass man ihn zu kennen meint. Es gibt nur einen Weg, um volle Konzentration und Geistesgegenwart zu erreichen: das Tempo drosseln.

Das gemeinschaftliche Lesen hat den Sinn, einen Text nicht nur zu lesen, sondern auch wirklich zu verstehen. Deep Reading entfaltet sich am besten in einer Gruppe, weil komplexe Texte Bilder- und Ideenmaschinen sind und weil es einen Unterschied macht, ob man schweigend liest oder seine Erfahrung mit anderen teilt.

Damit es weder viel Zeit kostet noch anstrengend ist, kommt ein drittes Element dazu:

  • Begrenzung

Deep Reading bedeutet, sich auf einen extrem kurzen und gleichzeitig extrem interessanten Ausschnitt aus einem Text zu beschränken. Es ist nicht wichtig, wieviel man liest, sondern was und wie man liest. Die Aufgabe der Leitung besteht nicht nur in der Moderation des gemeinsamen Lesens von Text und des Sprechens darüber, sondern auch in der Auswahl des richtigen Textausschnittes.

Hier sind weitere Thesen zur Technik, zur Funktion und zur Natur des Deep Readings:

  • Langsamkeit und Konzentration öffnen die Türen zu den interessanten Entdeckungen.
  • Übertragbares Verstehens-Training: Wer sich im Deep Reading übt, kann praktisch jedes Buch lesen lernen, ohne sich vorher auszukennen.
  • Verstehen, was Kunst ist: Deep Reading führt ins finstere Herz der Kunst: Texte, die man einem Deep Reading aussetzt, werden zu bis zur Decke mit Bedeutung gefüllten Schatzkammern.
  • Gegenstück: Speed-Reading. Beim Speed Reading versteht man 50%, beim Deep Reading 500%.
  • Deep Reading funktioniert ohne Vorkenntnisse. Historisches, biographisches oder literaturwissenschaftliches Wissen spielt immer eine Nebenrolle und kommt, wenn überhaupt, nach dem Text.

Für wen ist Deep Reading?

Deep Reading ist für alle gut,

  • die gern schwierige Texte oder dicke Bücher lesen wollen, aber nicht wissen, wie
  • die nach zwei Sätzen Literatur erledigt sind, obwohl sie problemlos Serien binge-watchen können
  • denen der Spaß am Lesen unabsichtlich oder boshaft ausgetrieben wurde, zum Beispiel in der Schule
  • die das Gefühl haben, dass ihnen beim Lesen Wichtiges entgeht

sowie für

  • Studierende, die zu viel zu lesen haben oder die ein schwieriger Text quält
  • Schreibende, die sich mit ihren eigenen Texten beschäftigen wollen
  • Schreibende, die sich von den Meisterwerken etwas abschauen möchten.

Slow? Deep? Close?

Wer von Deep Reading spricht, meint oft ungefähr das gleiche wie Slow Reading oder Close Reading. Jedenfalls ist das so in unserem Hause. Alle Begriffe haben etwas für sich, weil sie jeweils Aspekte der gemeinten Art zu lesen unterstreichen. Slow Reading ist ein häufig benutzer und sofort einleuchtender Begriff. Mit diesem Begriff lässt sich das Lesen an eine breitere Bewegung der Langsamkeit anbinden, zum Beispiel Slow Food, und von anderen, dem Grundsatz der Zeitersparnis verpflichteten Methoden abgrenzen, zum Beispiel Speed Dating. Deep Reading betont metaphorisch den Aspekt der Gründlichkeit: Nicht in die Breite, sondern in die Tiefe geht es. Und dann gibt es noch Close Reading – das bedeutet: Nah am Text. Hier wird deutlich, dass es beim Lesen oft darauf ankommt, sich nicht von vorgegebenen, dominanten Lesarten beeindrucken zu lassen, und dass es sich lohnt, einen Text sozusagen aus sich selbst heraus, also ohne weitere Hilfsmittel und nur mit dem eigenen Verstand zu verstehen. Gleichzeitig handelt es sich dabei um ein in der Literaturwissenschaft des letzten Jahrtausends entwickeltes Konzept, das hauptsächlich für die Lyrikanalyse gedacht und in gewisser Hinsicht eine elitäre Veranstaltung war. Daher ist das Close Reading in der Literaturwissenschaft sowohl beliebt als auch verpönt. Warum genau das so ist, muss aber noch besser erforscht werden.