Kleine Leseliste

Texte zu Deep/Slow/Close Reading

Thomas Newkirk, The Art of Slow Reading. (Portsmouth: Heinemann, 2012)

Ohne Zweifel eine der besten Diskussionen des langsamen Lesens, mit besonderer Berücksichtung der Lehre desselben. Die reiche Erfahrung als Lehrer und Dozent verbindet der Autor mit exzellenter Recherche und einem eleganten Schreibstil, der einen federleicht von Gedanke zu Gedanke trägt.

John Miedema, Slow Reading. (Duluth: Litwin, 2009)

Kurze, wohlgeordnete und sachliche Diskussion des langsamen Lesens mit Thesen zur Entstehung und Bedeutung des Phänomens. Weniger ein Handbuch für die Allgemeinheit als eine Auffächerung des Themas. Startpunkt ist Bibliothekswissenschaft, das Buch berührt aber auch Bereiche wie Kulturwissenschaft, Psychologie und Soziologie. Enthält außerdem Hinweise zum Weiterforschen.

David Mikics, Slow Reading in a Hurried Age. (Cambridge: Belknap, 2013)

Enthält Überlegungen zum Stand des konzentrierten Lesens in einer abgelenkten Zeit, vierzehn “Regeln”, wie man das langsame Lesen trainieren kann und Beispiellektüren aus den großen Genres Roman, Drama, Lyrik und Essay. Mit Freude an der Vermittlung komplexer Dinge geschrieben, und auch für Leute, die bei der Deutung von komplexen Metaphern mitgehen anstatt auszusteigen.

Texte zu literarischem Schreiben, Lesen von Literatur

Peter-André Alt, Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten. (2020)

Hält was der Titel verspricht und zeigt, wie wichtig ein erster Satz sein kann: Jedes Kapitel konzentriert sich auf einen Aspekt – zum Beispiel auf sprechende Herausgeber oder bekennende Erzähler – und bietet Beispiellektüren und Mini-Einführungen in zahlreiche Klassiker und Bestseller.

Terry Eagleton, How to Read Literature. (Yale UP, 2013)

James Fenton, An Introduction to English Poetry.  (New York: Farrar, 2002)
Kurze, persönliche und scharfsinnige Einführung in Phänomene, die sich beim Lesen englischsprachiger Lyrik zu beachten lohnen. Wer nie genau weiß, wie man anständig über Rhythmus und Betonungen sprechen soll, findet hier ein Buch, mit dem sich nicht nur das Silbenzählen üben lässt, sondern in dem auch Erklärungen angeboten werden, warum das eigentlich interessant sein könnte.

Olaf Kutzmutz u. Stephan Porombka (eds.), Erst lesen. Dann schreiben. 22 Autoren und ihre Lehrmeister. (Luchterhand 2007)

David Lodge, The Art of Fiction. (1992)

Nach wie vor empfehlenswert. Mehr dazu in unserem Blog-Eintrag.

Michael Maar, Die Schlange im Wolfspelz. (2020)

Ein nicht nur lehrreiches, sondern auch exzellent geschriebenes Buch zur großen Frage: Was ist eigentlich guter Stil? Darüber hinaus hat der Autor die Fähigkeit, unbekannte oder halb bekannte Text hochinteressant zu machen, und das mit Leichtigkeit, so als sei es keine große Sache, ein altes Buch hervorzuholen und die subtilen Eigenarten treffend zu beschreiben. Die Textbeispiele sind überzeugend, und die Chance, dass man sich schon beim Lesen einige Klassiker sofort zulegt, ist hoch. Denn der Autor kann nicht nur aus Büchern zitieren (=immer nur das, worauf es ankommt) sondern die Zitate auch kommentieren (=unterhaltsam erläutern und befragen, mit einem Blick sowohl fürs Detail als auch für das große Ganze).

B. R. Myers, A Reader’s Manifesto. An Attack on the Growing Pretentiousness in American Literary Prose. (2002)

Keine Sorge: Wir müssen die Frustration des Autors mit aufgeblasener Literatur nicht voll und ganz teilen, um aus diesem Buch etwas über die Frage nach gutem Stil und ernsthafter Literaturkritik zu lernen. Und wenn uns nachher die möglichen Unzulänglichkeiten eines angehimmelten Autors auffallen, ist auch das keine schlechte Sache. Denn entweder durchschauen wir den einen oder anderen Taschenspielertrick leichter und können nach besseren Texten suchen – oder wir finden gezwungenermaßen gute Argumente, die aus mutmaßlich prätentiosem Stil einen tatsächlich anspruchsvollen machen.

Ezra Pound, ABC of Reading. (New York: New Directions, 2010 [1934])

Eigentümliche, sowohl scharfsinnige als auch unbegreifliche Mischung aus Reflexion und Handbuch, Snobismus und Punk, in erster Linie gedacht für zukünftige Poeten von ganz früher mal.

Francine Prose, Reading Like a Writer. (2007)

Der Titel sagt es. Die Einführung erläutert, warum Close Reading für Autor:innen sinnvoll ist. Ansonsten finden sich hier zahlreiche Beispiellektüren, von denen sich direkt etwas lernen lässt.

Kenneth Rexroth, Classics Revisited. (New Directions, 1986 [1969])

Gelehrsamkeit und Eleganz in einem Paket aus kurzen, aber erstaunlich intensiven Porträts verschiedener Klassiker.

George Saunders, A Swim in the Pond in the Rain. (London: Bloomsbury, 2021)

(Obviously.)

Sutherland_How to Read

John Sutherland, How to Read a Novel. A User’s Guide. (London: Profile, 2006)

Gelehrtes und auch ziemlich lustiges Buch von einem altgedienten britischen Experten, der nichts mehr beweisen muss (beachte die Umschlagseite). Keine Anleitung zum Lesen im engeren Sinne, sondern eine Reflexion über verschiedene zunächst unscheinbare Themen, die uns beim Romanelesen steuern, also zu Titeln, Namen, Abbildungen, Anfangssätzen, Schriftarten und Gattungen. In diesem Sinne auch ein Crashkurs für Leute, die sich schon immer gefragt haben, was ein Paratext ist.
Der einzige Nachteil ist, dass das Buch im Jahr 2006 stecken geblieben ist, insofern sind die damals brandaktuellen Überlegungen zu Digitalisierung usw. mittlerweile wie in Eis konservierte Nachrichten von vorvorgestern.
Eines der Bücher, bei denen es sich unbedingt lohnt, auch die Anmerkungen zu lesen.
Empfiehlt beim Lesen die Benutzung eines Bleistiftes: “Whether you use it or not, the pencil-in-hand elevates you to the status of player, rather than mere consumer.”
Beantwortet die Frage: “Warum Romane lesen?” mit dem Hinweis, dass dort Dinge ausgesprochen, diskutiert und befragt werden können, die woanders nicht ausgesprochen werden können.

Maryanne Wolf, Reader, Come Home. The Reading Brain in a Digital World. (Harper 2019)

Stellt die These auf, dass die gegenwärtig sich rasant ändernden Bedingungen des Lesens das Denken selbst verändern, und dass wir genau beobachten sollten, was mit unserer Zivilisation und unserer Spezies passiert, wenn unsere Aufmerksamkeit mehr und mehr auf oberflächliches, schnelles Lesen gelenkt wird.
Leider wird nicht ganz klar, was genau mit dem Begriff “Home” im Titel gemeint ist: Ein goldenes Zeitalter vorm Internet, in dem wir alle konzentriert anspruchsvolle Klassiker gelesen haben? Ich persönlich kann mich gut erinnern, das früher das Fernsehen verantwortlich war für den Niedergang des Lesens, also hätte ich da gerne etwas mehr Differenzierung gehabt.
Trotz dieser leichten Tendenz zur Legendenbildung ums Thema Lesen: Das Buch bietet einen detaillierten, wenn auch nicht immer leicht zu verstehenden Einblick in die Vorgänge, die während Deep Reading im Gehirn passieren (die Autorin ist Neurowissenschaftlerin) und zeigt die Vorzüge, die das in die Tiefe gehende, ruhige, konzentrierte Lesen für uns als Individuen haben kann: Nicht nur die Vorstellungskraft, sondern auch Empathie, Hintergrundwissen und analytisch-kritisches Denken würden dabei erweitert und verbessert. Plausibel ist dann auch das Plädoyer der Autorin, dass die Fähigkeit zum Deep Reading für eine demokratische Gesellschaft, die kritisch denkende, mitfühlende und kenntisreiche Menschen braucht, unbedingt zu erhalten sei.

Nicht uneingeschränkt zu empfehlende Texte (Literatur, Lesen, Schreiben)

Jane Alison, Meander, Spiral, Explode. Design and Pattern in Narrative. (2019)

Ein origineller Ansatz, sich auf Design und Form zu konzentrieren und eine Alternative zu allgegenwärtigen Plot-Konzepten wie dem Fünf-Akter mit Konflikt und Höhepunkt aufzuzeigen. Wer sich dazu inspirieren lassen möchte, Spiral- und Wellenformen bei der Organisation der eigenen Texte zu verwenden, sollte sich das Buch ruhig einmal anschauen.
Leider sind die verwendeten Konzepte nicht immer nachvollziehbar und die Analogien zu Strukturen in Beispieltexten wirken eher erzwungen als plausibel: Im Kapitel “Waves” zum Beispiel wird die Form “Welle” ohne weitere Begründung als Meereswelle behandelt, und zwar nicht in ihrer natürlichen Umgebung, sondern einzeln, eingefroren und von der Seite aus gesehen: Warum aber gerade diese Variante gewählt wird (und nicht zum Beispiel mehrere sich wiederholende Wellen im Meer, oder von oben oder von vorne gesehene Wellen oder auch Radiowellen), bleibt unklar. Außerdem stellt sich schnell heraus, dass es in dem Kapitel “Waves” im Grunde um das Phänomen “Symmetrie” geht, was dadurch begründet wird, dass die von der Seite betrachtete Welle ja symmetrisch sei. Selbst wenn eine solche Welle tatsächlich und in einem spezifischen Moment als symmetrisch bezeichnet werden könnte – wenn ich eine Form für symmetrisches Erzählen suche, warum nimmt die Autorin dann nicht einfach ein gleichschenkliges Dreieck oder auch eine Pyramide?
Ähnlich unscharf behandelt die Autorin auch ihre anderen Begriffen wie “Network”, “Tsunami” oder “Spiral” – keiner davon wird klar umrissen oder differenziert. Damit ist dann auch keiner davon besonders hilfreich für das Arbeiten am eigenen Text. Schade ist auch, dass die zahlreichen Beispieltexte, die die Autorin benutzt, um ihren Ansatz zu demonstrieren, am Ende blass erscheinen: Wenn in ihnen bisher übersehene Formen auzuspüren sind, sollten sie eigentlich unwiderstehlich glänzen.

Frank Berzbach, Die Kunst zu lesen. Ein Literaturverführer. (Köln: Eichborn, 2021)

Vermutlich hat der Verlag den Titel festgelegt ohne lange darüber nachzudenken. Denn über die “Kunst zu lesen” erfährt man hier praktisch nichts und was ein “Literaturverführer” sein soll, wird auch nicht deutlich. Das Buch ist eher ein Memoir mit gemischten Anmerkungen und einer langen Liste von Büchern, die der Autor gelesen hat.

Julia Genz, Handbuch Kreatives Schreiben. Literarische Techniken verstehen und anwenden. (utb, 2022)

Ein so verschwurbelt geschriebenes Buch, dass man fast sicher sein kann, dass es kein inhaltliches Lektorat gab. Auch der Titel ist grob irreführend, da das Buch eigentlich eine Anleitung ist, ein spezielles Seminar (nämlich das der Autorin) im Bereich Germanistik durchzuführen. Und dabei geht es in erster Linie darum, sich von kulturwissenschaftlichen, philosophischen oder anderen Texten zu eigenen literarischen Texten inspirieren zu lassen und gleichzeitig die gelesenen Texte besser zu verstehen. Also zwei Fliegen mit einer Klappe: Leseliste abarbeiten und gleichzeitig literarisches Schreiben lernen.
Ich finde diesen Ansatz super und bin auch sicher, dass so ein Seminar richtig klasse sein kann. Aber durch das Buch habe ich es nur bis zur Hälfte geschafft und wenig Nützliches dabei finden können. Das liegt in erster Linie am Stil, aber auch an der Argumentationsweise (was ja oft ein und dasselbe ist). Beides scheint mir im Handbuch ziemlich schludrig behandelt zu werden, sodass sich dieses Buch eher wie ein erster Entwurf liest, oder als ein abschreckendes Beispiel für akademische Prosa. (Eine genauere Kritik dieses Stils im Blog)

Felicitas von Lovenberg, Gebrauchsanweisung fürs Lesen. (München: Piper, 2018)

Ein “Büchlein”, das eine Reihe von Zitaten, Behauptungen (gelegentlich mit Prozentangaben aus Studien, was nie ein gutes Zeichen ist) und persönlichen Einsichten einer zweifellos belesenen und professionellen Bücherliebhaberin enthält. Unterm Strich ist demnach Lesen gut für uns, aber besser keine E-Books. Das hatte die eine oder der andere wohl schon so geahnt.
Der Klappentext verspricht übrigens, man werde aufgeklärt, “was sich hinter Trends wie Deep Reading verbirgt”, aber das wird in Wirklichkeit nur ganz kurz einmal erwähnt. Und zwar wird Deep Reading bezeichnet als “Lernmethode, die Jugendliche dazu befähigen soll, längere Texte ohne größere Ablenkung zu lesen und ihren Inhalt im Kern zu erfassen.” Also im Prinzip das Gegenteil dessen, was in unserem Haus unter dem Namen Deep Reading gemacht wird.