Sich schemenhaft schieben

Um zu verstehen, was los ist in der Literatur, lese ich gern Bücher an, die auf Listen stehen. Wegen eines pedantischen Charakterzuges bleibe ich bei dem Versuch, in ein Buch reinzukommen, oft schon nach ein paar Sätzen an Details und Merkwürdigkeiten hängen. Zum Beispiel hier:

Anfang gelesen von: Reinhard Kaiser-Mühlecker, Wilderer (S. Fischer, 2022)

Liste: Longlist Deutscher Buchpreis 2022, Shortlist Österreichischer Buchpreis 2022

Hängengeblieben an:

  • Warum steht im zweiten Satz “konnte kaum vier Uhr Früh sein” kein es? Da das es in beiden Sätzen ein semantisch leeres formales Subjekt ist und damit sozusagen identisch, kann man es im zweiten Satz sicher weglassen, ohne dass der Satz falsch würde. Aber so klingt er zumindest auffällig. Wird hier die Stimme des Erzählers schon charakterisiert? Handelt es sich um jemanden, der besonders sparsam spricht? Oder ist, was als Sparsamkeit erscheint, ein erster Hinweis auf einen besonders unmittelbaren, vielleicht eher mündlichen oder umgangssprachlichen Stil des Erzählers oder des Autors?
    Der nächste Satz “Für einen Moment dachte er, es könnte doch später sein” zeigt interne Fokalisierung an: Der Erzähler weiß, was die Figur denkt. Das legt nahe, dass auch in den ersten beiden Sätzen die Figur denkt, dh denkend formuliert. So gesehen könnte das Einsparen des Wortes es auch auf eine Eigenschaft der Figur (und nicht des Erzählers) hinweisen; die Figur könnte sich zB durch sparsames Denken oder Formulieren auszeichnen. Es könnte auch sein, dass es sich um für die Figur eher außergewöhnliche Umstände handelt, dh die Figur könnte aus einem bestimmten Grund so sparsam denken, zB weil sie noch nicht ganz wach ist.
    Allerdings wird hier das es wieder hinzugefügt, was der gerade angedeuteten Sparsamkeit im Ausdruck der Figur zu widersprechen scheint. Wenn man den Stil vom ersten Satz fortführen wollte, könnte man ja schreiben: “Für einen Moment dachte er: Könnte doch später sein”.
  • “keine Veränderung der seit Wochen anhaltenden Hochdrucklage” und “ein Wetterumschwung, der sich schließlich auch zu so früher Stunde ankündigen konnte”: Werden hier die Gedanken durch erläuternde, ein bisschen umständliche Eingaben des Erzählers unterbrochen oder denkt die Figur selbst so?
    Zeigt der auffällige Kontrast zu den eher eigentümlichen, impressionistischen (?) Formulierungen – Im “Dämmerlicht […] war ein Flackern, war ungreifbare Bewegung” – sowie zur ganz zu Anfang möglicherweise ausgestellten Sparsamkeit/Mündlichkeit/Müdigkeit hier auf engem Raum das Nebeneinander verschiedener Stimmen oder Stimmungen an?
    Im Grunde stellt sich also die gleiche Frage wie oben, und zwar ziemlich unausweichlich: Wer spricht?

Nichts zu tun gehabt mit:

  • “Diese Eindrücke schoben sich schemenhaft durch seinen Kopf, als kämen sie von weither und hätten nichts mit ihm zu tun.”
  • “beruhigend fühlte es sich an”
  • “betätigte den Abzug”