Oktober, später, damals

Um zu verstehen, was los ist in der Literatur, lese ich gern Bücher an, die auf Listen stehen. Wegen eines pedantischen Charakterzuges bleibe ich bei dem Versuch, in ein Buch reinzukommen, oft schon nach ein paar Sätzen an Details und Merkwürdigkeiten hängen. Zum Beispiel hier:

Anfang gelesen von: Yael Inokai, Ein simpler Eingriff (Hanser 2022)

Liste: Longlist Deutscher Buchpreis 2022

Hängengeblieben an:

  • Worauf bezieht sich in “Da ist Überzeugung in meinem Blick. Ungetrübt von Zweifeln” das Wort “ungetrübt”? Auf das Objekt “Überzeugung (in meinem Blick)” oder nur auf “Blick”?
    Semantisch und wegen der Position direkt dahinter scheint es sich eher auf “Blick” zu beziehen. Wenn das so ist, könnte man die beiden Sätze (bzw. den Satz und die nachgestellte Partizipialkonstruktion) auch so formulieren: “Da ist Überzeugung in meinem von Zweifeln ungetrübten Blick.” Oder so: “Da ist Überzeugung in meinem Blick. Der Blick ist ungetrübt von Zweifeln.” Oder auch: “Da ist Überzeugung in meinem Blick, der ungetrübt von Zweifeln ist”.
    Wenn man als Bezug der Partizipialkonstruktion das Wort “Überzeugung” – oder gleich die ganze Phrase “Überzeugung in meinem Blick” – verstehen möchte, könnte man den Satz auch so formulieren: “Da ist Überzeugung in meinem Blick. Sie ist ungetrübt von Zweifeln” oder “Da ist von Zweifeln ungetrübte Überzeugung in meinem Blick.”
    Alle Variationen klingen komisch; vor allem aber scheint die Ergänzung jedes Mal redundant. Statt sowohl von Überzeugung als auch von fehlendem Zweifel zu sprechen, könnte man auch gleich sagen: “Da ist ungetrübte Überzeugung in meinem Blick.” Denn von was wird Überzeugung üblicherweise sonst getrübt, wenn nicht von Zweifeln?
    Würde man sich die Ergänzung sparen, hätte das den Vorteil, dass sich die Frage nach dem richtigen Bezug gar nicht stellen würde und man ungetrübt von Zweifeln weiter lesen könnte. Winwin.
  • Wieso steht eigentlich ein Punkt bei „…Blick. Ungetrübt…“ (und nicht ein Komma wie zB später bei „…Zukunft entlassen, eine echte Zukunft“?) Der Punkt impliziert, dass ein neuer, unabhängiger Satz anfängt, was aber offenbar nicht der Fall ist. Dem ersten Satz wird ja eigentlich nur eine Partizipialkonstruktion nachgestellt, die sich (ob Punkt oder nicht) auf den vorigen Satz beziehen muss, um Sinn zu ergeben.
    Ich habe zwar schon oft die Meinung vertreten, dass Punkte oft unnötig durch Kommas ersetzt werden (wenn zB zwei lange Hauptsätze mit Komma verbunden werden). Hier aber scheint mir umgekehrt ein Punkt dort zu stehen, wo eigentlich ein Komma hingehört.
  • Warum sind die beiden Sätze “Später, als ich mehr wusste, sehnte ich mich danach zurück. Der Glaube hatte mich beschützt” ein eigener Absatz? Achtung Rabbit Hole.
    Als regelmäßig Texte konsumierender Leser erwarte ich natürlich einen gewissen Komfort bei zeitgenössischen Literaturprodukten: Ich würde deshalb die Aufteilung dieses Textes in Absätze zunächst mal als Service verstehen, der mir hilft, in den Text reinzukommen. Das heißt, ich würde annehmen, das die mit den Absätzen stattfindenden Zeitwechsel auch visuell angezeigt werden soll. Es wird ja kein Zufall sein, dass die ersten drei Absätze mit Zeitwörtern anfangen: “Oktober”, “Später” und “Damals”.
    Allerdings gibt es schon im ersten Absatz zwei verschiedene Zeitebenen, nämlich “Oktober” und eine Zeit, die man “Mitte zwanzig” nennen könnte (und die sich später möglicherweise als identisch zu “Damals” herausstellen wird). Da wird es also direkt etwas uneindeutig, was die visuelle Hilfestellung betrifft.
    Beide Zeitebenen, “Oktober” und “Mitte zwanzig” erscheinen im Präsens. Das scheint erst mal ein bisschen verwirrend, weil so Gegenwart und Vergangenheit auf der gleichen Ebene stattzufinden scheinen. So etwas kann aber durchaus sinnvoll sein, wenn man zB zeigen möchte, wie präsent die Erinnerung für die Ich-Erzählerin auf der Zeitebene “Oktober” ist. Das Gesicht erscheint dann sozusagen im “Oktober” im Spiegel, auch wenn es aus “Mitte zwanzig” stammt. Im Grunde gehört “Mitte zwanzig” damit zu “Oktober”; und es gibt nur eine Zeit. Denn wenn es zwei verschiedene Zeiten sein sollen, warum stehen sie dann im gleichen Tempus und im gleichen Absatz?
    Was denkt ein verwöhnter Leser zum zweiten Absatz? Vielleicht dies: Der zweite Absatz zeigt mit Hilfe des Zeitadverbs “Später” sicher eine andere Zeitebene an. Die Frage ist dann aber: “Später” als was? Es liegt nahe, die Zeit des zweiten Absatzes zunächst als Später als Oktober zu verstehen. Das kann allerdings nicht stimmen. Der Kontext legt nämlich nahe, dass mit “später” später als Mitte zwanzig gemeint ist. An sich noch kein Grund für übermäßiges Kopfzerbrechen. Allerdings haben wir uns ja gerade erst damit einverstanden erklärt, dass diese erinnerte Zeit im ersten Absatz eher eine in der Gegenwart erinnerte Zeit darstellt, die deshalb auf der gleichen Ebene stattzufinden scheint wie “Oktober”. Warum müssen wir bei einem vermeintlich eindeutigen Signal “Später” noch mal um die Ecke denken?
    Etwas kommt hinzu: Der zweite Absatz wechselt auch in eine andere Zeitform, nämlich das Präteritum. Wie lässt sich das erklären? Die naheliegende Form, um Zukünftigkeit gegenüber dem Präsens anzuzeigen, wären das Futur oder das Präsens mit entsprechenden Signalwörtern (zB “später” oder “danach”). Zum gleichen Zweck ins Präteritum zu wechseln, wäre dagegen ungewöhnlich. (Das würde nämlich dann zB so klingen: Heute leihe ich mir ein Buch. Danach ging ich in die Bibliothek und brachte es zurück.)
    Ich nehme also an, dass das Präteritum hier eine Zeitebene darstellt, die im Verhältnis zum Vorhergehenden, im Präsens Erzählten, in der Vergangenheit liegen soll. Nur bezieht sich dieser Zeitwechsel offensichtlich nicht – wie der durch das Wort “Später” angezeigte Zeitwechsel – auf “Mitte zwanzig”, sondern offenbar auf “Oktober”. Denn nur im Verhältnis zu “Oktober” – der offensichtlichen Erzählzeit – könnte etwas in der Vergangenheit stattfinden, das gleichzeitig in der Zukunft von “Mitte zwanzig” liegt. Das würde aber heißen, dass der erste Satz des zweiten Absatzes sich auf zwei Zeitebenen gleichzeitig bezieht, mit zwei verschiedenen Mitteln und sozusagen über Kreuz.
    Ein bequemer Leser könnte sagen: Wenn man einen Absatz mit “Später” beginnt, wäre es hilfreich, damit auch der Ordnung der Absätze zu folgen. Hier allerdings ist “Später” früher als “Oktober”. Seltsam!
    Der zweite Satz des zweiten Absatzes “Mein Glaube hatte mich beschützt” macht die Sache noch etwas komplizierter: Er steht im Plusquamperfekt. Warum kommt hier eine weitere Zeitform ins Spiel? Offenbar soll damit eine Zeit vor “Später” dargestellt werden. Das könnte die gleiche Zeit wie “Mitte zwanzig” sein (die allerdings schon mit Präsens und Präteritum dargestellt worden ist und jetzt noch eine dritte Variante bekäme.) Oder es könnte sich um noch eine weitere, bisher noch unbenannte Zeitebene handeln; diese könnte man “beschützt” nennen. Unwahrscheinlich ist hingegen, dass der Satz die gleiche Zeitebene bezeichnet wie der vorige. Denn dann wäre das Präteritum die logische Wahl: Es würde sich ja nichts ändern. Es muss also auch hier innerhalb eines Absatzes ein Zeitwechsel stattfinden.
    Der dritte Absatz benutzt wieder ein Zeitadverb: “Damals”. Es liegt nahe, den vorigen Satz “Mein Glaube hatte mich beschützt” als Bezugspunkt zu nehmen (oder den vorigen Absatz insgesamt, was aber schwierig ist, weil der ja offenbar zwei Zeitebenen enthält, einmal “Später” und einmal “beschützt”). Wenn der letzte Satz der Bezugspunkt ist, wäre “Damals” die gleiche Zeit, in der auch der Glaube die Ich-Erzählerin beschützt (hatte). Das macht vom Kontext her Sinn, aber es stellt sich die Frage, warum die Zeitform geändert wird – vom Plusquamperfekt wieder zurück ins Präteritum – wenn sich die Zeitebene gar nicht ändert?
    Zurück zur Ausgangsfrage, warum hier drei voneinander getrennte Absätze stehen: Wenn es sich um nur einen Absatz handeln würde, würde der Text wahrscheinlich chaotisch erscheinen, oder zumindest unfertig. Die visuelle Trennung in “Oktober”, “Später” und “Damals” scheint als Hilfestellung gemeint zu sein, die allerdings, wenn man genauer hinschaut, die zeitliche Unordnung eher kaschiert als verhindert, weil sie eine Ordnung impliziert, die zumindest ungenau oder uneindeutig ist. Die Verknüpfung des Präsens und besonders des Präteritums mit jeweils zwei verschiedenen Zeitebenen scheint ein unnötig komplizierter Gebrauch der Zeitformen des Deutschen zu sein; wesentlich leichter machen könnte man es der bequemen Leserin, indem man die Varianz der Zeitformen aufs Minimum beschränkt.
    Natürlich könnte man jetzt zur Verteidigung des Textes sagen: Die Uneindeutigkeit ist ja vielleicht gerade der Punkt: Ein Text, in dem es möglicherweise um komplizierte. ambivalente Erinnerungen geht, kann doch wohl auch kompliziert im Umgang mit Zeitformen und Zeitadverbien sein? Und überhaupt muss doch gerade ein literarischer Text nicht so geschrieben sein, dass alles sofort zusammenpasst und verständlich ist?
    Ich bin der erste, der hier zustimmt. Aber dass das zeitliche Durcheinander zumindest in diesem Beispiel gut funktioniert, scheint weder damals im April noch später, als ich dies geschrieben und zum wiederholten Mal gelesen hatte, nicht bewiesen werden zu können.

Operationsfehler:

  • “in eine neue Zukunft”
  • “Dann fing etwas Neues an”

Erfolgreiche Eingriffe mit angenehmen Nachwirkungen:

  • “Oktober, Zeit für Gespenster.”
  • “Die Arbeit in der Klinik war an Hoffnungslosigkeit sonst nicht gerade arm.”
  • “Er navigierte seine Instrumente zur betroffenen Stelle im Gehirn und machte diese unschädlich. Die Frauen und Männer blieben dabei wach. So konnten wir sichergehen, dass alles Gesunde unversehrt blieb.”