Gebirglich und burgicht

Um zu verstehen, was los ist in der Literatur, lese ich gern Bücher an, die auf Listen stehen. Wegen eines pedantischen Charakterzuges bleibe ich bei dem Versuch, in ein Buch reinzukommen, oft schon nach ein paar Sätzen an Details und Merkwürdigkeiten hängen. Zum Beispiel hier:

Anfang gelesen von: Esther Kinsky, Rombo. (Suhrkamp 2022)

Listen: Deutscher Buchpreis 2022 (Longlist), ORF-Bestenliste März 2022, SWR-Bestenliste April 2022

Hängengeblieben an:

  • Wie kann man sich “Kämme” vorstellen, die sich “gebirglicher geben, als sie sind”? Ach so, Moment: Das Wort “gebirglich” scheint eine Neuschöpfung zu sein; gebirgig wäre wohl das üblichere Adjektiv. Falls aber das gleiche wie gebirgig gemeint ist, verstehe ich diese Aussage nicht als Bild, sondern als Information über den Erzähler: Da weiß jemand offenbar, was ein Gebirge ausmacht und kann landschaftliche Illusionen durchschauen. Benutzt dieser Jemand vielleicht deshalb das Wort “gebirglich” sogar als eine Art Fachbegriff?
  • Auch das Wort “burgicht” scheint eine Eigenkreation zu sein, aber die Alternative burgig ist auch nicht häufig: Wenn ich auf DWDS burgig suche, werde ich ohne Zögern zu bergig geleitet, als ob es sich nur um einen Tippfehler handeln kann. Drückt sich hier auch ein Experte aus, der “burgicht” als einen Fachbegriff benutzt? Dafür würde sprechen, dass auch hier der Erzähler die “Wirklichkeit” sieht oder kennt. Denn die Ruine sieht ja nur aus wie eine Burg, ist aber keine.
    Oder wäre eine “burgichte Ruine” in einem anderen Text einfach eine Burgruine oder eine burgartige Ruine und sind damit die Worte “burgicht” – vielleicht auch das eben angesprochene “gebirglich” sowie “kalksteinig” und “dünnhalmig” – Orte der Begegnung mit einer Autorin, die gerne neue (oder kuriose/eigenwillige) Wörter verwendet?
  • Der erste (und einzige) vollständige Satz (mit Subjekt und Prädikat) dieses Absatzes ist “Ihre Lieblichkeit verdankt die Landschaft” etc. Das könnte ein Grund dafür sein, dass der Text als Landschaftsbeschreibung nicht leicht zu verstehen ist. (Mit Prädikaten müsste man wahrscheinlich konkreter werden, d.h. die einzelnen Bilder fester miteinander verknüpfen.)
  • “Rombo” wird (noch) nicht erklärt. Ebenso wird (noch) nicht erklärt, woher das Zitat “präludirendes Getöse” stammt.
    Fachbegriffe und obskure Zitate signalisieren ja oft, dass wir als Publikum zu einer bestimmten Gruppe gehören oder uns zumindest ein bisschen bemühen sollten, wenn wir mit dabei sein wollen. Auch wird das Zitat als unzutreffend bezeichnet, was ein Beleg mehr dafür ist, dass hier jemand spricht, der (gerne) Bescheid weiß.

Deep Dive Kommasetzung:

  • Das Komma scheint in diesem Absatz auffällig viele verschiedene Funktionen zu haben, zB in dem Satz „Ihre Lieblichkeit verdankt die Landschaft einer gewaltigen Materialverschiebung, Gletscher, Felsen, Masse, die es bis hierher gebracht hat, unweigerlich unter einem Lärmen, das weit über das Grollen eines Rombo hinausgeht.“
    • Komma 1: Nach „Materialverschiebung“ funktioniert es offenbar wie ein Doppelpunkt oder Gedankenstrich, d.h. es zeigt an, dass nun eine Aufzählung oder Beschreibung der “gewaltigen Materialverschiebung” folgt.
    • Komma 2: Nach „Gletscher“ zeigt das Komma wohl das nächste Glied einer Aufzählung an.
    • Komma 3: “Felsen, Masse”
      • Möglichkeit a) Das Komma führt die Aufzählung fort. D.h. “Masse, die es bis hierher gebracht hat” wäre in der gleichen Aufzählung (und damit Kategorie) wie “Gletscher” und “Felsen”. Die Landschaft würde also aus Gletschern, Felsen und Masse, die es bis hierher gebracht hat, bestehen.
      • Möglichkeit b) Das Komma übernimmt auch hier die Funktion eines Gedankenstriches oder Doppelpunktes. D.h. es könnte die beiden Begriffe “Gletscher” und “Felsen” in die Kategorie “Masse, die es bis hierher gebracht hat” ordnen. Dann wäre die Landschaft gemacht aus Gletschern und Felsen: Masse, die es bis hierher gebracht hat.
      • Macht das einen Unterschied? Ich glaube ja.
        Könnte man durch den Einsatz anderer Satzzeichen oder dem Wort und das Verstehen erleichtern? Ich glaube ja.
    • Komma 4 bei “Masse, die” zeigt, dass ein Relativsatz anfängt. Ganz reibungslos ist das aber nicht: Wenn wir “Masse” noch als Teil einer Aufzählung begreifen, erwarten wir nach dem Komma wahrscheinlich das nächste Glied und müssen wir hier umschalten. Auch das wäre zu vermeiden durch ein und an passender Stelle.
    • Komma 5: Das Komma bei “hat, unweigerlich” zeigt wohl eine Ergänzung an. Deren Bezug ist hier allerdings nicht ganz eindeutig:
      • Möglichkeit a) Das Wort “unweigerlich” spezifiziert als Adverb die Wortgruppe “unter einem Lärmen”, d.h. das Lärmen ist unweigerlich. Dann wäre das maßgebliche Attribut, das den vorigen Teilsatz näher beschreibt, die Gruppe “unter einem Lärmen”, d.h. die Bedeutung wäre: Die Masse hat es unter unweigerlichem Lärm bis hierhin gebracht.
      • Möglichkeit b) das Adverb “unweigerlich” ergänzt stattdessen das Prädikat hat es bis hierher gebracht, und zwar unabhängig von und zusätzlich zu “unter einem Lärm”. Dann wäre die Bedeutung: Die Masse hat es unweigerlich und unter einem Lärmen bis hierhin gebracht.
      • Ist also Bewegung der Masse unweigerlich oder der dabei erzeugte Lärm, oder beides?
    • Komma 6 bei “Lärmen, das” ist wohl das Komma, das am wenigsten auffällt: ein Relativsatz beginnt.
  • Ähnlich vielfältig finde ich die Funktion des Kommas auch an anderen Stellen, z.B. bei “über das Hügelland, die Kuppen, besteckt mit Kirchen und Dörfern”. Was z.B, ist hier “besteckt mit Kirchen und Dörfern”: das Hügelland, die Kuppen, oder beides?

Abgeleitete Vermutungen über den Rest des Textes und Fragen an die, die weiter gelesen haben:

  • Stimmt es, dass ich beim Weiterlesen vielen weiteren ungewöhnlichen Wörtern und Verweisen auf Spezialwissen begegnen würde?
  • Stimmt es, dass ich viel Arbeit damit haben würde, die Kommas in komplexen Sätzen richtig zu verstehen?