Michael hat heute beim Frühstückmachen und dann Frühstücken Radio gehört, so wie man es früher machte, nämlich ohne bestimmtes Ziel einfach DLF eingeschaltet. Und das hat er schnell bereut. Jetzt hat er sich in den Salon zurück gezogen, um nachzudenken und vielleicht noch “etwas Harmonisches zu lesen”, wie er sagt. Aber ich glaube, er denkt nicht nach und liest auch nicht, sondern liegt nur da. Vielleicht träumt er von irgendwelchen Marmortempeln ohne Menschen drin. Er hat nämlich diesen etwas glasigen Blick bekommen, den er immer bekommt, wenn über die Zukunft der Menschheit gesprochen wird.
Besonders wenn es um die wahrscheinliche und abzusehende Zukunft geht. Es kam heute nämlich – nach einer Sendung über 2 Komponisten, die so schöne Wörter wie “hinterfragen” und “dynamisch differenziert” enthielt – eine Sendung von “Essay und Diskurs”, in der über die Gegenwart und Zukunft der Arbeit, also der “Arbeit im Anthropozän” gesprochen wurde.
Es war zwar eine Wiederholung, also längst überholt von der Gegenwart. Trotzdem war so Einiges drin, wie wir beide fanden, während wir ein Rührei mit einer zuerst in Scheiben geschnittenen und dann mitgebratenen Bockwurst und jeweils eine Scheibe Käsetoast aßen: Nämlich zugespitze Einsichten und Thesen über das Leben heute. Einsichten, die man sofort als sinnvoll anerkennt, die man im täglichen Hin und Her aber kurioserweise immer wieder vergisst, obwohl sie das private Leben zu einem großen Teil steuern.
Also vom Kern her: Wie die Industrie 4.0 mit ihren Leuchtfeuern, den Drohnen und Algorithmen, uns eigentlich auffordert, eine Alternative zum Traum der guten, richtigen Arbeit im Dienste des Kapitalismus zu entwickeln. Weil die Hälfte von uns demnächst überflüssig gemacht werden könnte. Und wie wir uns aber tatsächlich tiefer und tiefer in eine Bedrouille gesteckt wiederfinden, weil wir ja statt weniger zu arbeiten mehr arbeiten für weniger Lohn.
Mich betrifft das zum Glück nicht, da mein Arbeitsplatz und meine Rente sicher sind. Aber Michael hat es gar nicht gefallen, an die Realität erinnert zu werden. Wir mussten die Sendung schweigend zu Ende hören, und sein Gesichtsausdruck wurde finster. Er hat am Ende seinen Kaffee genommen und gesagt, er müsse jetzt nachdenken, wie man mit Deep Reading die Dinge in Ordnung bringen kann.
Denn irgendwie, das glaube er, sei das eine gute und richtige Sache, sich radikal und konzentriert mit dem zu beschäftigen, was den Menschen gerade noch liebenswürdig mache: mit dem Denken und der Vorstellungskraft und, ja, am Ende eben mit der Kunst. Und man müsse das weiter entwickeln, weil jetzt genau die richtige Zeit sei, jetzt wo nicht nur der Traum von der guten und richtigen Arbeit, sondern auch das Wachstum aller Dinge zu Ende gehe.
Ich habe nicht verstanden, wo da der Zusammenhang ist. Wenn er wieder aus dem Salon rauskommt, frage ich mal nach. Wobei es gut sein kann, dass er den Gedanken selbst wieder vergessen hat und stattdessen mit einer neuen Idee für einen prähistorischen Roman ankommt. Aus der dann nichts wird, weil es ja, wie er sagen würde, viel Arbeit sei, einen Roman zu schreiben, aber kein Mensch für diese Arbeit zahlen wolle.