Aber lieber noch

Um zu verstehen, was los ist in der Literatur, lese ich gern Bücher an, die auf Listen stehen. Wegen eines pedantischen Charakterzuges bleibe ich bei dem Versuch, in ein Buch reinzukommen, oft schon nach ein paar Sätzen an Details und Merkwürdigkeiten hängen. Zum Beispiel hier:

Zuerst überlegten wir, wie immer, was wir tun würden, wenn wir hier vergessen werden. Die Bergstation war im abendlichen Nebel verschwunden, unter uns der gleiche dicke weiße Himmel wie vor uns. Der Sessellift stand still und schaukelte wild auf und ab. Ganz schwindelig wurde uns davon, aber wir sagten nichts. In unseren Fäustlingen führten die klammen Finger heimliche Tänze auf. Da war diese Geschichte von dem Kind, das den kalten Bügel abschleckte und dem die festgeklebte Zunge dann abgeschnitten werden musste. Und da war die Geschichte von Hermann Maier, der bei den Olympischen Winterspielen in Nagano 1998 drei Tage nach seinem schweren Sturz in der Abfahrt Gold im Super-G gewann. Aber lieber noch ließen wir in Gedanken erst die Ski, dann die Skischuhe fallen, knoteten unsere Anoraks und Hosen aneinander und hofften auf einen weichen Himmel.

Anfang gelesen von: Marie Gamillscheg, Aufruhr der Meerestiere (Luchterhand 2022)

Liste: Longlist Deutscher Buchpreis 2022

Hängengeblieben an:

  • Wieso ist der erste Satz ein eigener Absatz? (Und brauchen wir diesen Satz eigentlich?)
  • Erst “würden”, dann “werden”: ist das richtig so, einmal Konjunktiv, einmal Indikativ? Müsste es nicht heißen wenn wir hier hier vergessen werden würden? Und weil das nicht gut klingt: gibt es vielleicht eine bessere Lösung (zB falls man uns hier vergessen würde)?
  • Warum steht kein Verb hinter “unter uns”? Es ist ja offenbar nicht das gleiche Verb wie im ersten Teilsatz; man kann es sich also nicht einfach aus Platz- oder Klanggründen sparen (Im ersten Teilsatz ist das Verb “war…verschwunden”, im zweiten müsste aber eher war stehen, also etwas mit gegensätzlicher Bedeutung).
  • “Der Sessellift stand still und schaukelte wild auf und ab.” Geht das wirklich beides? Heißt stand still hier hielt plötzlich an oder hatte angehalten o.ä.?
  • “Da war”: Wo genau? In den “Fäustlingen”? Oder ist mit “da war” so etwas gemeint gemeint wir erzählten uns? Wenn ja, warum steht das dann nicht da?
  • “Aber lieber noch” – als was? (Als einen Bügel abzuschlecken? Als eine Zunge abzuschneiden? Als 1998 Gold zu gewinnen? Als kalte Finger zu haben? Als nichts zu sagen?)
  • Werden im letzten Satz die “Ski” und die “Skischuhe” nur “in Gedanken” fallen gelassen, die “Anoraks” und “Hosen” aber tatsächlich aneinander geknotet? Pragmatisch gelesen ist klar, das alles in Gedanken stattfindet; aber ganz sicher bin ich hier nicht.

Aber lieber noch etwas anderes lesen als das gedacht bei:

  • “wie immer”
  • “führten die klammen Finger heimliche Tänze auf”

Vorm Ausstieg noch einen melancholischen Blick geworfen auf:

  • “und hofften auf einen weichen Himmel”